Das ist ein altes Thema ohne Patentlösung. Sicher kann ich Familie und Freunde nicht mit einer Kekule-Auflistung für meine Familiengeschichte gewinnen. Wie denn aber? Vielleicht so? (Auszug aus Emil Franckes Reisebuch El Hierro, mit freundlicher Genehmigung des Autors)
Ein Abendgespräch
„Lieber Carlos, du hast mir in kurzer Zeit so viel Interessantes über die Insel erzählt. Ich muss es sich nicht nur setzen lassen, sondern durch eigenes Sehen und Erleben in mich aufnehmen. Lass uns doch heute Abend einmal die Insel beiseite legen und über unser Hobby sprechen. Natürlich nur wenn du Lust hast. Weißt du, an unserem monatlichen Familienforscher-Stammtisch achten wir beide ja immer darauf, dass viele Themen angesprochen werden, die möglichst alle interessieren, aber es bleibt zu wenig Zeit für die eigene Familiengeschichte. Seien wir ‘mal ehrlich. Eigentlich interessiert uns Familienforscher ja vor allem die eigene Geschichte. Und so wissen wir im Grunde gegenseitig wenig von unseren jeweiligen Familien. Hier haben wir ja genügend Zeit, einander in Ruhe zuzuhören. Ich fühle jetzt schon diese Entschleunigung und sie tut richtig gut. Also, fang’ doch mal an. Was ich mir definitiv aus unseren bisherigen Gesprächen gemerkt habe, ist, dass du in der Vaterlinie aus einer alten Frankenhäuser Ratsfamilie stammst. Damit dir die Zunge nicht austrocknet, habe ich vor einer Stunde schon eine Flasche von Uwes Monte entkorkt. Wir haben aber mindestens noch eine zweite und dritte.“
„Du weißt viel zu genau, dass ich bei diesem Thema auch aus dem Trockenen starte, aber bei einem Monte redet es sich natürlich noch besser. Die Herkunft der Familie erinnerst du richtig. Ich habe es ja auch wohl mehr als einmal erwähnt. Einverstanden. Aber du kannst dir denken, dass es eine lange und ausführliche Geschichte ist. Für die Fülle der Daten habe ich bisher noch keine vernünftige Form gefunden. Außerdem ist dies, wie immer in der Genealogie, eine never ending story. Lass mich eine Kurzform versuchen. Aber selbst für die wird ein Abend schwerlich ausreichen.“
So ergab es sich, dass Carlos mit dem Erzählen begann und der Abend lang wurde. Er selbst stamme übrigens nur indirekt aus dieser Familie, die in ihrem Wappen seit jeher ein Horn und Eichenblätter trage. Er denke, dass sich die Herkunft wohl kaum auf Postillione oder Jäger und Förster beziehe, auch nicht auf einen Militärmusiker, sondern eher von einer dieser Hausmarken stamme, die zur Zeit des beginnenden Gebrauchs von Familiennamen bei dieser Familie namengebend war. Er wolle dem aber nicht weiter nachgehen, da auch das Institut des berühmten Namensforschers Professor Udolph hierzu so viele Erklärungsvarianten für möglich halte, dass weitere Deutungsversuche nichts brächten. Sein eigener Urgroßvater sei das Produkt eines dieser selten thematisierten Fehltritte in der angesehenen Familie, der dann den Namen seiner schönen Mutter erhalten habe. Immer noch besser, als ein anderer ganz früher durch einen Chronikeintrag des Pfarrers bekannt gewordener Fehltritt in dieser Familie. Der damals vierte collega an der städtischen Lateinschule hatte anfangs Probleme mit seiner Vaterschaft, so dass die Mutter, eine attraktive Witwe, den Neugeborenen zunächst aussetzte. Seitdem hatte das unschuldige Kind einfach Thomas Fundeling geheißen, und Carlos hatte herausgefunden, dass einem Spross aus diesem Familienzweig sogar nach der nachträglichen Legitimation noch in der nächsten Generation der Zusatz Fundeling geblieben war. Im Vergleich zur damaligen lutherisch orthodoxen Praxis sind heutige Diskriminierungen harmlos. „Ich sehe, dass ich schon zu Beginn abschweife. Ich muss versuchen, mich auf meine Frankenhäuser Ratsfamilie zu konzentrieren.“
„Von dieser Familie, die sich wie gesagt mit Eichenlaub und Hifthorn ‘wappnete’, gab es in der Stadt schon vor der Reformation verschiedene Familienzweige. Sie gehörte immer zu denen, die die Geschicke der Stadt leiteten. In den größeren Städten hätte man sie dem Patriziat zugerechnet. Aber in Frankenhausen sollte man die Regierenden nicht so nennen. Sie übten weiterhin ihr Handwerk aus und behielten somit Bodenhaftung. Mit den Schwarzburger Herren der Stadt waren sie nicht immer einer Meinung und so kam es, dass der Familienname auch unter denen erwähnt wird, die mit Thomas Münzer sympathisierten und deshalb nach der im Mai 1525 oberhalb der Stadt verlorenen Bauernkriegsschlacht den siegenden Fürsten Strafgelder zahlen mussten. Schlecht für sie, schön für uns Heutige, denn das dazu verfasste Dokument gibt uns wichtige Informationen zu ihrem Besitz. Und so kennen wir den Hausbesitz dieser Familienmitglieder, wissen um ihren Anteil an den Salzsiedepfannen, Feldern und Weinbergen und um ihr Braurecht. Mitte des 16. Jahrhunderts ist mit dem Ratskumpan Joachim der Spitzenahn unserer Familie nachgewiesen. Wie er waren auch in den folgenden Generationen der Schuster, Tuchmacher und Seifensieder immer einige dieser Brau- und Pfannherren Ratsschreiber, Ratskämmerer oder Bürgermeister.
Als ich historisch noch unwissend war, hatte ich zu diesen Funktionen leise vor mich hin gespottet. Das konnten in einer so übersichtlichen kleinen Stadt ja keine besonders schwierigen Ämter sein. Später wurde mir klar, dass ich da wohl etwas ziemlich unterschätzt hatte. Auch erwarben sich viele der künftigen Amtsträger dazu nötiges Wissen durch Studium an den umliegenden Universitäten. Diejenigen, deren Kenntnisse in ihrer Heimatstadt nicht benötigt wurden, wanderten als Pfarrer, Juristen, Amtmänner und Lehrer in andere Herrschaftsbereiche. Konkret waren das Fehmarn, das ostfriesische Jever, Hessen und Holstein. Mit den politischen und technologischen Umbrüchen des 19. Jahrhunderts nahm diese Abwanderung um die Mitte des Jahrhunderts zu und wendete sich wie bei vielen Deutschen bis nach Amerika. So gibt es für meine genealogische und sozialgeschichtliche Neugier ein weites und fruchtbares Feld. Ich könnte über Christian berichten, der in schweren Jahren des Dreißigjährigen Krieges als Bürgermeister mit diplomatischem Geschick und Standvermögen einmal die Übergriffe der Wallensteiner, dann wiederum der Schweden abwehren musste. Ich könnte den im Nachlass des Rentmeisters Andreas aufgeführten Einspänner herausgreifen, mit dem der Cammerrath wohl um 1750 seine Dienstreisen nach Rudolstadt bestritt. Auch der Bürgermeister Günter Heinrich Philipp, der ab 1839 für fünf Jahre zu den ersten Landtagsabgeordneten Thüringens gehörte, wäre eine Geschichte wert. Spannend auch der spätere Frankenhäuser Arzt Johann Christian David, der als Student in Leipzig zu den Schülern und Versuchspersonen Hahnemanns, des Begründers der Homöopathie, gehörte. – Ich könnte! Aber keine Sorge, ich belasse es bei den Andeutungen.“
So viele Nachfragen ich gehabt hätte, so war ich Carlos zu der jetzt schon fortgeschrittenen Stunde für seine Zurückhaltung doch dankbar. Ich hatte ihn ja zum Erzählen ermuntert, und er hatte es geschafft, ein vergangenes halbes Jahrtausend in eine kleine Skizze zu pressen. Wie klug von ihm. So, würde ich ihm bei späterer Gelegenheit gerne wieder zuhören.
Noch ein genealogisches Abendgespräch
„Die Art, wie du mir deine Familiengeschichte erzählt hast, ist genau das, was ich mir von anderen Forscherkollegen wünschen würde. Leider passiert das zu selten. Immer noch wird Familiengeschichte fast ausschließlich nach einem der genealogischen Ordnungsmodelle präsentiert, etwa nach dem Kekule-System, wenn man von einem Probanden in die Vergangenheit geht oder nach entsprechenden Systemen von einem Spitzenahn in die Gegenwart. Jedenfalls findest du in den genealogischen Zeitschriften fast immer diese Form. Nach diesen Vorgaben hättest du mit deinem Stammvater begonnen, alle seine Kinder genannt, mit deren Geburts- und Taufdaten, Ehen, Sterbe- und Beerdigungsdaten. Dann hättest du die Ehen mit Nachwuchs benannt, die weiteren Generationen soweit wie möglich beschrieben und erst beim Aussterben einer Linie aufgehört. Zuletzt hättest du die Darstellung wahrscheinlich aus Datenschutzgründen bei deinem Urgroßvater, vielleicht auch erst Großvater enden lassen. Habe ich recht?“
„Du hast mich ja gerade dafür gelobt, dass ich es nicht getan habe. Aber ich muss dir gestehen, dass ich in einem Zeitschriftenartikel auch die von dir gerade beschriebene Form wählen würde. Und das mit Überzeugung. Das ist doch die Tradition genealogischer Darstellungen, die sich bewährt hat und von den Kollegen erwartet wird. Ich musste mich kürzlich sogar dafür rechtfertigen, dass meine Form einer Stammlinie nicht genau der vor Jahren von der Leipziger Zentralstelle für Genealogie herausgegebenen Richtlinie entspreche. Das lag daran, das ich ein Genealogieprogramm verwende und dessen Systematik folge. Ich habe im Laufe dieser Diskussion erfahren, dass Puristen sogar solche Hilfen ablehnen. Soweit gehe ich nicht. Aber ich halte es für richtig, der Tradition zu folgen. Im übrigen ist es nur mit dieser Form möglich, Forscherkollegen Daten anzubieten, an die sie anknüpfen können. Da wirst du mir ja wohl zustimmen.“
„Interessant Carlos, dass du offensichtlich zweigleisig fährst, einmal in der Publikation, wie gerade beschrieben, zum anderen im lockeren mündlichen Bericht in der Form, die mir so gefallen hat. Einer Form, die ich selbst auch für Publikationen bevorzuge. Dein Argument, dann würde ich Forscherkollegen Informationen vorenthalten, kann ich für mein Vorgehen entkräften. Denn ich lasse meinen Darstellungen als Anhang je nach Thema genaue Vorfahren- oder Nachfahrenlisten folgen. Seit ich vor einigen Jahren mit dieser damals noch als unorthodox geltenden Form begonnen habe, kann ich jetzt doch beobachten, dass mehr und mehr Forscherinnen und Forscher ähnlich verfahren. Über diese Anzeichen eines Wandels freue ich mich natürlich. Mit dieser Darstellungsform kann ich nämlich auch mein Ziel umsetzen, sozialgeschichtliche Darstellungen oder wenigstens Anmerkungen in die Familiengeschichte zu integrieren. Denn das ist doch das Wichtigste, dass wir versuchen zu verstehen, wie und unter welchen Bedingungen unsere Vorfahren ihr Leben in einer bestimmten Zeit gemeistert haben. Also, nimm es mir nicht übel, aber deine traditionelle Darstellung halte ich einfach für überholt.“
„Wir müssen ja nicht in allem übereinstimmen“, meldete sich Carlos, „aber deine Forderung zum sozialgeschichtlichen Hintergrund ist auch mein Anliegen. Ich habe aber ehrlich gesagt noch keine befriedigende Lösung dafür gefunden. Ganz allgemein finde ich es schwierig eine vernünftige Form zu finden, zeitgeschichtliche Gegebenheiten und Familiengeschichte und die darin gegebenen Abhängigkeiten optimal darzustellen.“
Beide gingen wir ganz in unserem Hobby auf, betrieben es so ernsthaft, dass unsere Familien manchmal den Kopf darüber schüttelten, und doch hatten wir, nicht was die Forschung sondern die Darstellung des Erforschten angeht, ziemlich unterschiedliche Ansichten. Mit solchen Gedanken endete wohl für beide von uns dieses Abendgespräch.
Auszug aus Emil Frankes Reisebuch El Hierro