Brennendes Licht / Anna Seghers in Mexiko

Der Zug hat den Hamburger Hauptbahnhof Richtung München verlassen. Ich sitze auf meinem reservierten Platz. AHA! (A) Die Abstände im Wagen 11 entsprechen an diesem Neujahrsmorgen den Coronaregeln mehr als genug. Nur zwei weitere Sitze sind belegt, der anschließende Wagen völlig leer.  Per Komfort-Check-in wird sogar die indirekte Berührung mit der Schaffnerin überflüssig. Der Kontaktvermeidung sind heute auch Kaffeeservice und Zeitungen zum Opfer gefallen. (H) Das mit der Handhygiene wird man sehen müssen. (A) Mein Atemschutz ist mit der FFP2-Maske regelgerecht.

Etwa sieben Stunden im Zug. Die Zeit wird für einen zweiten Anlauf mit dem geschenkten Buch reichen. Weidermann, Volker: Brennendes Licht / Anna Seghers in Mexico, Berlin 2020 (Aufbauverlag)

Die Freundin wusste von meinem beruflichen Mexico-Aufenthalt Anfang der 70er Jahre, meinem Interesse an (lateinamerikanischer) Literatur und meinem Versuch, die aus meiner Beobachtung beinharte Kommunistin Anna Seghers zu verstehen, denn ich hatte mich kürzlich in ihr ‚Transit‘ hineingelesen. – Brennendes Licht!? Meine Erwartungen waren in einem ersten Anlauf enttäuscht worden, und ich hatte das Buch nach den ersten 30 Seiten und testweisem Durchblättern enttäuscht zur Seite gelegt. Zu Mexico nur blasse Schilderungen, zur kommunistischen Gruppe, dem Heine-Club, nichts Substanzielles, nichts zur Auseinandersetzung zwischen Trotzkisten und Stalinisten, kein neues Quellenmaterial. So war mein Eindruck. – Es ist natürlich ein Fehler, an ein Buch mit solchen Erwartungen heranzugehen. Also nochmal in aller Ruhe von vorne.

Und nun? Nach den 177 Seiten? Der Autor rekonstruiert Seghers‘ Mexikozeit anhand von Zitaten, überwiegend aus ihren eigenen Texten, und versucht sich in ihre Lebensumstände hineinzuversetzen. Immer auch mit Fragen, die ohne Antwort bleiben müssen. Das mag eine gelungene, durchaus in sich schlüssige literarische Aufarbeitung sein. Aber am Ende hat sie mir nichts Neues zu Anna Seghers gebracht, die ich aus meiner Blickrichtung von West nach Ost als stramme und kompromisslose Parteigenossin in Erinnerung hatte und nun weiter haben werde. Was treibt sie zu ihrer Überzeugung an? Wie setzt sie sich mit den Ansichten Trotzkis auseinander? Wie ist ihre wirkliche Beziehung zu ihren „Freunden“? Wenn doch wenigstens sichtbar würde, was den Autor antreibt, sich mit ihrer Biografie zu befassen? Wo brennt welches Licht?

Natürlich liest man kein Buch ohne jeden Gewinn. Wieder zuhause blättere ich in Büchern zu Egon Erwin Kisch, Frida Kahlo, Traven, Pablo Neruda, Tina Modotti. Erinnerungen werden reaktiviert. Und ich muss mich vergewissern. Ein Beispiel, Weidermann, Seite 21: Anderthalb Jahre war es her, dass Anna Seghers‘ gute Freundin, die geniale Fotografin, Trotzkistin, Tina Modotti eines Abends in einem Taxi gestorben war. Mit 45 Jahren, einfach so. „Herzversagen“ hieß es später. Viele glaubten es nicht. „Trotzkistin“ hätte auch sie Todesursache sein können. Das kann man präziser, natürlich auch ausführlicher und dann auch ohne diese Vermutung, beziehungsweise deren Deutung, bei Margaret Hooks nachlesen. (Tina Modotti / eine Biographie, München 1993, deutsche Erstausgabe, Kapitel 22, Ein einsamer Tod).  

Auch der großartige Film ‚Unter dem Vulcan‘ und sein 1985 mit dem Oskar ausgezeichneter Hauptdarsteller Albert Finney steigt aus der Erinnerung nach oben. Ob ich doch auch einmal zu Malcolm Lowry’s Buch greifen werde? Auch an diesem Beispiel, also einem Segher-fremden Text, demonstriert Weidermann seine Methode, Literaturzitate für die eigene Interpretation heranzuziehen.

Dann Diego & Frida. Das hat nun gar nichts mehr mit Anna Seghers zu tun. Der Autor fragt sich, weiß es nicht, ob sich Frida und Anna jemals begegneten. Offensichtlich gibt es dafür keinen literarischen Beleg. Alles ist woanders schon oft beschrieben und genau so oft gelesen worden. Was soll das? Hier bläht der Autor per Name-Dropping seinen Text unnötig auf.

Ich muss wohl endlich zugeben, dass mich dieses Buch doch sehr beschäftigt hat. Hätte es sonst so viele – und nicht nur die hier geäußerten – Gedanken hervorgerufen? Also lesenswert? Offensichtlich ja!


PS.
PT lebte und arbeitete drei Jahre lang (1970-72) in Mexico D.F.