Familiengeschichte einmal anders erzählt

Im ausgedehnten Lagerhaus meiner Forschungsfrüchte habe ich gerade einen mehr als zehn Jahre alten Brief an meine engere Familie ausgegraben. Und ich möchte ihn meinen möglichen Lesern aus zwei Gründen nicht vorenthalten, einmal, weil ich immer wieder nach Formen suche, Familiengeschichte anders denn als Aufzählung von Kekule-Ziffern zu erzählen und für dieses Ziel sogar mit einem Büchlein (auch per eBook) werbe, das es für eine halbe Kinokarte zu kaufen gibt, und zweitens, weil ich nach dem Wiederlesen meines damaligen Ergusses diese Form noch immer gelungen finde (oi joi joi!). Aber seht selbst.

Liebe Familie,

ich möchte euch wieder einmal berichten … „O nein, bloß nicht schon wieder Peter mit seiner Familienmacke“. Ich weiß, ich nerve euch. Aber seht es doch einmal so: da ist einer aus der bedrohlich anwachsenden Altenschar glücklich beschäftigt, ja, sogar ein Wirtschaftsfaktor. Man sollte dafür Werbung machen! Wer soll denn sonst all die Notebooks kaufen, DSL-Anschlüsse mieten, Druckerpatronen kaufen, wer sichert denn stabile Arbeitsverhältnisse bei Uni-, Bibliotheks- und Archivpersonal, wer lastet denn die Hotels in abgelegenen deutschen Landschaften in der Vor- und Nebensaison aus, wer denn? wenn nicht solche spleenigen Alten wie ich. Außerdem bewirkt mein Tun auch Gutes, nämlich als Ventil für die menschliche Spottlust. „Was hast du so gemacht? Hast du wieder einen Teuthorn gefunden?“

Nein, ich muss euch diesmal enttäuschen. Aber ich habe Evelyn, Ursula und Pauline gefunden. Evelyn heißt einfach Evelyn – ihren Eltern ist wohl nichts Weiteres eingefallen – und sie ist eine Prellberg und lebt in Orlando, Florida. Sie arbeitet als begeisterte ‚guest relation representative‘ bei Disney World. Kürzlich hat sie meinen geduldigen Kusin ich-weiß-nicht-wievielten-Grades zwei volle Tage lang – den Tag zu 12 Stunden – durch diese Märchenwelt geführt.

Ursulas Eltern waren spendabler. Deshalb heißt sie Ursula Marie, und sie ist eine Schmoll. Allerdings starb sie bereits vor gut 275 Jahren im hessischen Bergbaustädtchen Thalitter. Ich habe sie auf meiner Hessenrundreise im schneekalten März dieses Jahres erst so richtig kennengelernt.

Paulines Eltern haben ihre Tochter Caroline Pauline Wilhelmine getauft. Sie ist nun endlich eine geborene Teuthorn. Um rechtzeitig zur Hochzeit mit Gunther Schroter – bitte amerikanisch aussprechen – zu kommen, musste sie von Frankenhausen nach Bremerhaven fahren, von dort über Southampton nach New York dampfen und dann mit dem Planwagen in die Goldrauschregion des oberen Sacramento rumpeln. Die Endstation erreichte sie Ende Juni 1859 im nordkalifornischen Shasta.

Da fällt mir sozusagen außer Konkurrenz noch eine Frau ein, die 50 Jahre später auch eine weite Reise unternahm, um mit ihrem Liebsten Tisch und Bett zu teilen. Erika Bachmann hatte auf der Schiffahrt nach Deutsch Südwestafrika vier Wochen Zeit, sich das Eheleben mit Emil im Klein-Windhuker Tal auszumalen.

Sind nicht Frauen viel interessanter als Männer? Ohne Frage, vor allem für Männer. Jedenfalls meistens. Vor allem, wenn diese Familienforschung betreiben.

Evelyn Prellberg ist die Enkelin von Emil Teuthorns ältester Schwester Luise. Diese hatte Ende des vorvorigen Jahrhunderts nach ihrer Ankunft in New York einen Prellberg geheiratet, blieb in Hoboken, direkt gegenüber dem westlichen Manhattan, dort wo die großen Passagierschiffe des Norddeutschen Lloyd und der Hamburgischen Paket-Aktiengesellschaft, der HAPAG, ihre Piers hatten. Evelyns Vater war William Prellberg. Evelyn hat ihren Vater nicht gekannt. Denn der zeugte sie mit der gerade aus Puerto Rico gekommenen Mary Algarin, hielt seine Tochter noch 6 Monate lang auf dem Arm und starb. Die Witwe kehrte mit dem Baby in ihre puertoricanische Heimat zurück, und Evelyn wuchs in einer Latino-Großfamilie auf. Englisch lernte sie erst seit sie mit zehn Jahren mit ihrer Mutter nach Florida kam. Mein Kontakt zu ihr kam über meinen schon erwähnten Vetter Alan Prellberg zustande.

Ursulas Leben führt uns in eine lange zurückliegende Zeit. Es ist die Zeit des Absolutismus, die Männer von Stand tragen Perücken und die Französische Revolution liegt noch in weiter Ferne.

Im März saß ich im Wiesbadener Hauptstaatsarchiv vor einem dicken Folianten und tauchte ein in das Leben der Pfarrerstochter und Gattin des Oberberginspektors Ludwig Balthasar Müller, ein Leben, das sich paradoxerweise erst aus ihrer Leichenpredigt lebendig vor mir ausbreitete. Der Brauch, das Andenken Verstorbener mit einer gedruckten Leichenpredigt zu ehren, ist nach der Reformation aufgekommen und hat sich etwa 200 Jahre gehalten. Natürlich konnten sich nur Begüterte solche Kostspieligkeit leisten. Das für Familie und Freunde gedruckte Exemplar der Ursula Müller, geborene Schmoll, umfasst mehr als 60 Seiten, und der Familienforscher stürzt sich natürlich auf den zwischen Predigttext und Nachrufgedichten abgedruckten Lebenslauf. Trotz der Tatsache, dass man selbstverständlich über die Toten nur Gutes sagt, entsteht ein anschauliches auch von Frömmigkeit bestimmtes Lebensbild. Zwei Tage zuvor hatte ich in der Bergkirche von Thalitter das wandhohe Gemälde betrachtet, auf dem Ludwig Balthasar Müller und seine neun Kinder an Ursulas offenem Sarg stehen. Die jüngste der dort abgebildeten Töchter, die 17jährige Philippine Johanette Elisabeth, hatte Mitte 1730, also ein halbes Jahr vor dem Tode ihrer Mutter, den 23 Jahre älteren Amtmann Caspar Christian Teuthorn geheiratet. Das Ehepaar und seine fünf Söhne waren der eigentliche Anlass meiner Reise gewesen.

Mit dem fachwerkgeprägten Landesteil zwischen Alsfeld und Darmstadt lernte ich eine mir bisher unbekannte deutsche Landschaft kennen. Biedenkopf an der Lahn kannte ich schon. Für die im Tal der Eder gelegenen Orte Vöhl und Thalitter, Lebensmittelpunkte der Familie, nahm ich mir Zeit, und das etwas nördlichere Korbach mit seinem Vorzeigemuseum war eine nicht erwartete Überraschung. An all diesen Plätzen hatten die hessischen Teuthorns also gelebt und gewirkt, zuerst der Vöhler und Biedenköpfer Amtmann, dann der Pfarrer Ernst Heinrich, der Geschichtsschreiber Georg Friedrich, der Gießener Regierungsadvokat Ludwig Christian, der Student Johann Karl und der Burg-Gemündener Amtmann Georg Teuthorn.

Nach dieser Reise konnte ich meinen Aufsatz über die hessischen Teuthorns nun beenden und dieses Kapitel der Familiengeschichte zuklappen.

Die Konkurrenz zwischen Microsoft und Google um immer neue Produkte nutzt dem Familienforscher. In den digitalisierten Büchern von books.google.de machte ich vor wenigen Wochen den für mich bislang überraschendsten Fund. In dem erst 2005 erschienen Buch ‚Old Shasta‘ steht der bedeutsame Satz: „…Gunther Schroter soon made enough money in ‚boomtown Shasta‘ to send for his German sweetheart, Pauline Teuthorn.“ Pauline war mir ja nicht unbekannt, allerdings hatte ich diese Seite ihres Lebens nicht erwartet.

Zwei Söhne der letzten Frankenhäuser Teuthorn-Generation in der langen Familiengeschichte in Frankenhausen hatten ihre Heimatstadt Mitte des 19. Jahrhunderts verlassen. Wilhelm Günther ging als Barbier/Chirurg in das dänische Kiel und wurde der Stammvater aller heute lebenden Teuthorns. Sein älterer Bruder, der Arzt Johann Christian David wanderte 1848 zusammen mit seinem Sohn, dem studierten Landwirt Heinrich Ottomar Theodor, nach Amerika aus. Dort verliert sich seine Spur für mich. Bis zu dem Fund im Old Shasta-Buch hatte ich angenommen, der Ökonom Ottomar habe seine Schwester, die Bäuerin Pauline Teuthorn, nach erfolgreicher Ansiedelung in Amerika 1859 nachkommen lassen. Der aktuelle Fund korrigiert nun diese Annahme. Es war Guenther Schröder (*1829), der die vier Jahre jüngere Pauline aus Frankenhausen kannte, und sie nachgeholt hatte, als er in der nordkalifornischen Goldrauschstadt Shasta mit seinem Sattlergeschäft ein gesichertes Auskommen hatte. Das Faszinierende an dieser Geschichte ist für mich Kommunikation und Transport vor 150 Jahren, aber auch die Vitalität und Ausdauer unserer Vorfahren. Zwei Monate lang war die 26jährige  unterwegs gewesen als sie Mitte 1859 in Kalifornien ankam und sofort Frau Schroter wurde. In Amerika fügte sie dem Vermögen ihres Mannes den traditionellen Frankenhäuser Kinderreichtum hinzu. In 13 Jahren wurden dem Einwandererehepaar neun gesunde Kinder geboren.

Und wo könnt ihr mehr über Evelyn, Ursula und Pauline erfahren? Fotos von Evelyns Treffen mit ihrem Kusin Alan in Orlando sowie ein Schema ihrer Familie stehen bereits im geschützten Bereich von TeuNet. – Die Geschichte der hessischen Teuthorns könnt ihr unter Familiengeschichte nachlesen. Wahrscheinlich erscheint im Herbst ein etwas geraffter Aufsatz in der Zeitschrift ‚Hessische Familienkunde‘.

Paulines Geschichte, eine Ortsbeschreibung zu Shasta und vielleicht auch Auszüge zum California Trail müssen erst noch entstehen.

Viele Grüße euch allen, und spottet schön weiter, damit ich meinen Familien-Spleen mit Genuss weiter pflegen kann.

 

Euer Peter
Gilching am 23. Juli 2006