Der Griff in mein Bücherregal (V)

Gustav Freytag

Bilder aus der deutschen Vergangenheit

Als Heranwachsender las ich mit Begeisterung Gustav Freytags ‚Die Ahnen‘ (1) in der sechsbändigen Ausgabe Hirzel, Leipzig 1922 und ‚Soll und Haben‘ (2) in der zweibändigen Ausgabe von 1913. Beide schenkte mir Mitte der 60er Jahre meine Großmutter aus ihrem Bücherbestand. Ganz beiläufig lernte ich über diese Texte die gedruckte deutsche Kurrentschrift. Die Bände stehen immer noch in meinem Bücherregal.

Das ist nostalgische Vergangenheit. Um die gegenwärtige Jahreswende habe ich nun erstmals Auszüge aus Freytags Hauptwerk gelesen. Es sind die ‚Bilder aus der deutschen Vergangenheit‘.  Und da wir nun in der Gegenwart sind, schaue ich per eBook und lateinischen Buchstaben zurück. „Freytag schildert darin die deutsche Geschichte am Beispiel ausgewählter Quellentexte. Das Werk […] erfuhr bis 1909 je nach Band zwischen 27 und 32 Auflagen und gehört damit zu den beliebtesten deutschen Geschichtswerken des 19. Jahrhunderts überhaupt.“ (Wikipedia 01/2015)

Textauszüge:
(Stadt im 14. und 15. Jahrhundert, also im sogenannten späten Mittelalter)

WEIN:
“ […] der Weinbau wird damals […] in fast ganz Deutschland versucht, nicht nur in Thüringen, auch in der Mark und Pommern, ja sogar in dem neuen Ordensland Preußen. Begeht die Stadt frohe Weinlese, dann rücken Bewaffnete in das Feld, damit die schwärmenden Städter vor einem Überfall sicher sind.“

„Im Norden des Thüringer Waldes herrschte das Bier, fast jede Stadt braute mit besonderen Vorteilen und war auf ihre bessere Sorte stolz. […] die Erfurter wußten wohl, daß ihr öliges schwarzes Bier den greisen König Rudolf bei seinem Besuch im deutschen Norden begeistert hatte. […]  Der schlechte inländische Wein wurde oft mit Kräutern, Gewürz und Honig versetzt, er hieß dann Lautertrank, eine Erinnerung daran dauert in unserem Maitrank; fremder Würzwein, kunstvoll aus französischem Rotwein verfertigt, wurde als Claret und Hippokras eingeführt; über Maulbeeren abgezogener Wein hieß Moraß; außerdem wurden viele andere Arten von aromatischen Tränken verfertigt, auch mit gekochtem Wein, zum Teil nach Rezepten, die aus dem römischen Altertum stammten; sie galten für medizinisch hilfreich, waren auch von Frauen begehrt, mehr als jetzt die Liköre. Im Süden des Thüringer Waldes machte dem Landwein der Birnmost und Äpfelwein Konkurrenz, er war z. B. der herrschende Trank in Bayern, wo erst später das Bierbrauen überhand nahm, der Bock aus der Stadt Einbeck erlernt wurde.

Von ungemischten Weinen war außer dem deutschen vom Rhein und der Mosel, vom Neckar und dem Würzburger vom Main noch der von Rivoglio (Reifall genannt) und von Bozen, die französischen Muskatell und Malvasin und der Osterwein aus Ungarn wohlbekannt, außerdem viele italienische Sorten, von Ancona, von Tarent usw., endlich griechische Weine, darunter der berühmte Zyperer. Ulm war der große Weinmarkt, von dort gingen die Fässer bis hinauf in das Ordensland Preußen und in die feinsten Handelsstationen der Ostsee.“

KLEIDERORDNUNG
„Weit wichtiger aber als in der Gegenwart ist dem Menschen jener Zeit die geschmückte Kleidung, Männer und Frauen sind um die Wette bemüht, sich, wo sie vor andern erscheinen, kostbar zu halten. Der Verbrauch an bunten und teuern Stoffen ist verhältnismäßig sehr groß. Dieser Drang, sich vor andern bemerklich zu machen und über die Kräfte stattlich zu erweisen, steht im Widerspruch zu der Neigung des Mittelalters, jeden Mann auch durch bezeichnende Tracht nach Beruf und Geltung kenntlich zu machen. Wie der Leibeigene, der Jude, der Geistliche durch besondere Tracht erkennbar sein soll, so will auch der Fürst, der Ritter, der Kaufmann für sich und seine Frau in Stoff und Schmuck ein Vorrecht haben, und unablässig suchen andere Kreise dieselbe Auszeichnung für sich zu gewinnen. Damals begannen die Kleiderordnungen der Städte und Landesherren, die erst mit der Französischen Revolution aufhörten.“

Wer sich heute ein Bild vom Alltagsleben unserer Vorfahren machen will, wird sicherlich zuerst zu der aktuellen dreibändigen Darstellung Richard van Dülmens ‚Kultur und Alltag in der frühen Neuzeit‘ greifen.  Wer aber einen etwas allgemeineren, weniger wissenschaftlichen, kürzeren, gut lesbaren und trotzdem fakten- und quellenbasierten Überblick über die Epoche des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit sucht, wird mit Gustav Freytags Darstellung immer noch Gewinn unnd Freude haben.

Von Freytag verwendete Quellen finden sich u.a. in der Einblattdrucksammlung Gustav Freytag, die digital zugänglich ist: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/freytag/nav/index/all

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In der Reihe ‘Griff in mein Bücherregal’ auch:
I    Ulrich Wehler
II   van Dülmen
III  Theodor Fontane
IV  Historischer Stadbildatlas Kiel
V   Gustav Freytag
VI  Eric Hobsbawm
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1) Erstausgaben: Die Ahnen 1855, 2) Soll und Haben 1872-1880
3) Als eBook bei ebook.de 2,49 € oder kostenlos in der Sammlung Gutenberg: http://gutenberg.spiegel.de/buch/bilder-aus-der-deutschen-vergangenheit-3712/25
Diese Ausgabe ist aber leider nicht vollständig.