Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme / Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts / hier: Die kulturelle Revolution ( 11. Kapitel)
Aus einer Rezension in der SZ vom 2./3. Okt. 2012:
Im vierten Band, „Zeitalter der Extreme“, einem fabelhaft guten, weltumspannenden Buch, wird das 20. Jahrhundert als eine Epoche beschrieben, die 1914 begann und 1989 endete. Ein großer Teil der historischen Zunft hat diese Einteilung angenommen.
Im klimatisierten ICE war meine gestrige Reise über die 1000 km-Distanz von Schleswig-Holstein nach München, einmal abgesehen von der über dem Land lastenden Hitze, angenehmer als sie es im Auto oder Flieger hätte sein können. Bahnreisezeit ist auch Lesezeit!
Ich hatte das elfte Kapitel – Die kulturelle Revolution – aufgeschlagen, und gleich mit dem ersten Unterabschnitt nahmen meine genealogischen Antennen Hobsbawms Zusammenfassung der einschneidenden Veränderungen in Haushalt, Familie und Partnerschaft in meinen Kosmos zur Famileingschichtsforschung auf. Hobsbawm beginnt:
„Der vielversprechenste Zugang zu dieser kulturellen Revoution führt über die Familie und den Haushalt, also die Beziehugsstrukturen zwischen den Geschlechtern und den Generationen.“
Er beschreibt die Kernfamilie innerhalb einer wie auch immer gearteten Lebensgemeinschaft, um dann festzustellen,
„In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich diese grundlegenden und lange bewährten Arrangements mit rasender Gechwindigkeit zu ändern begonnen, und zwar am dramatischsten in den entwickelten westlichen Ländern.“
Er belegt diese Feststellung u.a. mit zunehmenden Scheidungsraten und abnehmenden Kernfamilien (Ehe plus Kind) an der Gesamtzahl der Haushalte.
Ja, Moral, Sexualität, Dauer von Partnerschaftsbeziehungen haben sich seit der noch vor einem halben Jahrhundert überlieferten und noch in der Jugend von uns Älteren als nahezu unverrückbar angesehenen Form in recht kurzer Zeit fundamental geändert. Dass dies eine mit gewissen zeitlichen Verschiebungen weltweite Entwicklung ist, stellt der Autor, der ja keine Regioal-, sondern Weltgeschichte schreibt, anhand von Beispielen überzeugend und fesselnd dar.
Nun ist das alles aus unserer jeweiligen Perspektive eigentlich überhaupt nichts Neues. Wir haben ja unserer eigenen Erfahrungen und beobachten unsere unmittelbare Umgebung. Das Interessante und für mich durchaus auch Wirkungsvolle dieser zusammenfassenden Betrachtung ist aber, dass hiermit eine Entwicklung zu einem wohl unumkehrbaren Zustand ausgesprochen deutlich bewusst gemacht wird. Und dieser wird in dem von uns überschaubaren Bereich nun noch durch die Auswirkungen einer verstärkten, von Hobsbawm hier nicht behandelten, Migration verstärkt werden.
Uns, die wir traditionelle Familienforschung betreiben, die üblicherweise zu allererst weit in die Vergangenheit gerichtet ist, mag das zunächst noch wenig berühren. Doch schon für unsere Kinder und Enkel wird die neue Form des Zusammenlebens neben weiteren kulturellen Veränderungen Normalität sein. Also muss diese neue Realität auch abgebildet werden können.
Das kann nicht nur, sondern wird Auswirkungen auf unser Hobby haben, wenn die nächsten Generationen es fortführen. Es wird nicht nur darum gehen, wie künftig erweiterte Beziehungsdaten per Software erfasst werden können, sondern vermehrt auch darum, wie die nun Tatsache gewordenen beschriebenen Veränderungen in sozialer Gemeinschaft für das, was wir Familiengeschichte nennen, festgehalten werden können und in die Familiengeschichtsschreibung einfließen müssen.
(Eric Hobsbawm hat mich in diesem Blog schon einmal beschäftigt, nämlich unter http://teuthorn.net/feuilleton/?p=1427 , und mit der Frage, wie aus einem Obstbaum ein Hobsbawm wurde?)
PT 1.8.2018
In der Reihe ‘Griff in mein Bücherregal’ auch:
I Ulrich Wehler
II van Dülmen
III Theodor Fontane
IV Historischer Stadbildatlas Kiel
V Gustav Freitag
VI Eric Hobsbawm